Leitlinie Chancengleichheit und persönliche Entwicklung

In unserer Vision wachsen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unter Bedingungen auf, die ihnen Perspektiven für ein selbstbestimmtes und verantwortungsbewusstes Leben geben.
Dazu gehört für uns, dass alle jungen Menschen die gleichen Chancen für die persönliche Entwicklung erhalten. Es ist unser Auftrag, durch unsere pädagogische Arbeit dazu beizutragen und die individuelle Entwicklung jedes einzelnen jungen Menschen bestmöglich zu unterstützen.

Dabei ist die Frage handlungsleitend, warum Chancen ungleich verteilt sind und junge Menschen unterschiedliche persönliche Entwicklungsmöglichkeiten haben. Um diese Frage zu beantworten, bedarf es zum einen den Blick auf die Zielgruppe und zum anderen auf die gesellschaftlichen Strukturen, in denen die jungen Menschen aufwachsen und die ihre Entwicklungschancen prägen. Als maßgebliche Zielgruppenmerkmale, die einzeln oder in verschiedenen Kombinationen zu Ungleichheiten in der persönlichen Entwicklung führen (können), haben wir für unsere Arbeit definiert:

  • Das Geschlecht, d. h. ob man als Junge oder Mädchen oder mit nicht eindeutigen (intersexuellen) Geschlechtsmerkmalen geboren ist und welche Geschlechtsidentität (z. B. männlich, weiblich, transgender oder queer* jede und jeder Einzelne entwickelt.
  • Die sexuelle Identität, die z. B. hetero-,homo-, bi- oder asexuell sein kann.
  • Eine körperliche, geistige oder seelische Beeinträchtigung und/oder Befindlichkeit. Darunter fallen sowohl vorübergehende Krankheiten als auch dauerhafte Behinderungen.
  • Die Herkunft der jungen Menschen. Dazu gehören die ethnische, kulturelle und religiöse Zugehörigkeit ebenso wie der Bildungs- und der soziale Hintergrund der Herkunftsfamilien.

* Queer heißt zunächst „seltsam, komisch, verquer“. Dient als Überbegriff für alle Geschlechtsidentitäten, die Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellen.

Pädagogik der Vielfalt

Es ist ein Merkmal pluraler Gesellschaften, dass viele verschiedene Lebensformen nebeneinander existieren. Dadurch ist eine gesellschaftliche Offenheit entstanden, in der sich überlieferte Muster für neue Entwürfe, für die Möglichkeit anders zu sein, öffnen. Dadurch kann „Normalität“ infrage gestellt werden. Es entwickeln sich hybride* Identitäten und eindimensionale Kategorien wie „Frau“ oder „Migrant“ werden aufgelöst. Identitäten sind nicht starr, sondern haben vielfältige, sich wandelnde Facetten. Mit dieser neuen Pluralität ist jedoch keine gleichzeitig entwickelte Chancengleichheit einhergegangen. Moderne Gesellschaften sind vielmehr durch ein hohes Maß an Ungleichheit gekennzeichnet. Die Verteilung gesellschaftlicher und individueller Chancen ist in eine  „Mehrheitskultur“** eingebettet.

Menschen gehören nicht nur einer Kategorie an. Sie sind immer zugleich von verschiedenen Seins- und Diskriminierungsformen und/oder Privilegierungsformen betroffen. So kommen zum Beispiel bei einem Jungen oder Mädchen mit Migrationshintergrund zugleich der Migrationshintergrund und das jeweilige Geschlecht bzw. die zugeschriebene Geschlechterrolle zur Wirkung. Diese Merkmale entfalten ihre Wirkung aber nicht, indem sie „addiert“, sondern in ihren Wechselwirkungen und Überkreuzungen (Intersektionalität***) gesehen werden. Dieser Vielfalt von Lebenslagen tragen wir in unserer pädagogischen Arbeit durch eine „Pädagogik der Vielfalt“**** Rechnung.

Es ist unser Auftrag, gesellschaftliche Ungleichheiten, die zu Benachteiligungen führen, zu benennen und im Rahmen unserer Möglichkeiten zu verändern. Wir helfen jungen Menschen, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln und sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden. Durch unser Handeln beteiligen wir uns unvermeidlich am Prozess der Konstruktion und Dekonstruktion***** von Zuschreibungen.
Kulturelle Leitbilder – „Konstruktionen“ (von Männlichkeit, Weiblichkeit, Migrationshintergrund, etc.) – prägen stark den Alltag von jungen Menschen. Indem wir bspw. Mädchen oder Jungen mit einer Behinderung ansprechen, konstruieren wir eine Gruppe junger Menschen mit vermeintlich gleichen Eigenschaften, Interessen oder Hintergründen.
Diesem Prozess können wir nicht entgehen, er ist nur durch reflexives pädagogisches Handeln in den Griff zu bekommen.
Unsere pädagogische Arbeit knüpft an den Stärken und Fähigkeiten der jungen Menschen an und nimmt sie in ihrer Lebenswelt und ihrem gesamten Handeln, Denken und Fühlen ernst. Sie orientiert sich an ihren individuellen Bedürfnissen, Möglichkeiten und Kompetenzen.
Von pädagogisch Tätigen und Führungskräften wird die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen, Geschlechterverhältnissen und Konstruktionsprozessen erwartet, ebenso eine reflektierte Sicht des eigenen Handelns sowie der eigenen Geschlechterrolle, Herkunft und kulturellen Einbettung.

Unsere pädagogische Arbeit bricht patriarchale Vorstellungen auf und fördert die Gleichberechtigung
der Geschlechter. Dies gilt sowohl für die gesamte Gesellschaft als auch für das Denken, Fühlen und Handeln einzelner Personen. Unterdrückende Hierarchien werden verändert und abgebaut.

*       Hybrid bedeutet eine Mischung aus zwei oder mehreren Komponenten.
**     Kultur, die – vermeintlich – von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt wird.
***   Bei Intersektionalität fragt man, in welcher Weise Ungleichheiten und gesellschaftliche Differenzierungen (etwa nach Klasse, Geschlecht, Ethnie, aber auch nach Alter, sexueller Orientierungen) in Wechselbeziehung zueinander stehen und wie sich Merkmale aufgrund ihrer Überkreuzungen gegenseitig abschwächen oder verstärken können.
****  Vgl. Annedore Prengel: Pädagogik der Vielfalt, Opladen, 2006
***** Dekonstruktion bezeichnet das Offenlegen von Konstruktionsmechanismen, dahinterstehenden Denklogiken und For-men ihrer Weitergabe.

Geschlecht und Geschlechtsidentität

Da unsere Einrichtungen koedukativ sind, ist bei allen Planungen, Angeboten, Schwerpunkten, Projekten, Maßnahmen etc. die spezifische Situation von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen. Die parteiliche geschlechtshomogene Arbeit ist eine tragende Säule der pädagogischen Arbeit des KJR. Daneben gehören Crosswork und Arbeit mit Mädchen bzw. mit Jungen zum pädagogischen Repertoire.

Alle jungen Menschen, die sich nicht mit der sozialen Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit oder der Zuschreibung von Geschlechterrollen identifizieren, werden gleichberechtigt angesprochen, anerkannt und einbezogen. Verunsicherungen, die dabei bei anderen Kindern und Jugendlichen entstehen, werden thematisiert und reflektiert, dies darf aber zu keiner Ausgrenzung oder Benachteiligung führen. Der eigenen geschlechtlichen Beschreibung junger Menschen begegnen wir mit Respekt und sorgen dafür, dass junge Menschen in unseren Einrichtungen einen respektvollen Umgang erfahren.

Sexuelle Identität

Neben dem Geschlecht bzw. der Geschlechtsidentität haben Menschen häufig wegen ihrer sexuellen Identität keine gleichen Chancen.
Heterosexualität stellt das gesellschaftliche Leitbild dar, Heteronormativität* bestimmt Haltungen, Empfindungen und Handlungen. Nicht-heterosexuelle Menschen müssen immer noch Abwertung, Diskriminierung und Gewalt fürchten. Junge Menschen, die andere als (ausschließlich) heterosexuelle Gefühle bei sich wahrnehmen, halten sich oft für „unnormal“. Sie zweifeln an sich selbst und  verzweifeln an ihrer Situation. Wir sind in der pädagogischen Arbeit sensibel für die persönliche Entwicklung und unterstützen und stärken dort, wo dies gewünscht oder gefordert wird.
Wir zeigen durch unsere Arbeit und unseren Umgang untereinander und mit den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, dass uns alle jungen Menschen willkommen sind, dass wir Diskriminierung weder in der Sprache noch im Tun dulden.

* Heteronormativität bezeichnet eine als natürlich verstandene Aufteilung in die zwei Geschlechter (Mann und Frau), die eine gesellschaftliche Norm(alität) von Verhaltensweisen und Vorstellungen konstruiert und dadurch diejenigen aus-schließt, die anders leben und lieben.

Körperliche, geistige oder seelische Beeinträchtigung

Neben der vielfachen Diskriminierung in Sprache und Tun erleben auch junge Menschen mit Behinderungen oder Krankheit oft nur eingeschränkte Chancen für ihre persönliche Entwicklung. Sie treffen einerseits auf bauliche, organisatorische oder rechtliche Barrieren, andererseits auf Vorbehalte, Verunsicherung und Ängste bei anderen Menschen.

Mit unseren Angeboten wollen wir Teilhabegerechtigkeit für junge Menschen mit Behinderung(en) gewährleisten. In der praktischen Umsetzung sind uns der Abbau von Barrieren in den Köpfen und die Sensibilisierung für die Belange von Menschen mit Behinderung(en) besonders wichtig. Wir orientieren uns an den Stärken und Ressourcen der Kinder und Jugendlichen mit und ohne Behinderung(en) und schaffen Raum und Rahmenbedingungen für selbstverständliche Begegnungen.

Herkunft

Auch die Herkunft hat Einfluss auf die Chancen junger Menschen. So haben Jugendliche mit Migrationshintergrund oft begrenzte Möglichkeiten der Partizipation am politischen und gesellschaftlichen Leben. Ein Migrationshintergrund bedeutet aber nicht per se Benachteiligung und Diskriminierung. Und der Status „deutsch-einheimisch“ nicht automatisch Privilegierung und gesellschaftlichen Chancenreichtum. Auch sind nicht alle Kinder und Jugendlichen migrantischer Herkunft von prekären Lebenslagen gleichermaßen betroffen. Die soziale Herkunft und die (fehlende) frühzeitige Teilhabe an Bildung beeinflussen Chancengleichheit und persönliche  Entwicklungsmöglichkeiten deutlich stärker als ein Migrationshintergrund.
Daneben hat die kulturelle und religiöse Herkunft Einfluss auf die Freiheiten und Möglichkeiten junger Menschen in unserer Gesellschaft.

Für viele junge Menschen spielen in der Selbst- und/oder Fremdwahrnehmung die Kategorien „Kultur“, „Ethnie“, „Religion“ als Charakterisierung von Unterschieden oder für die Analyse ihrer gesellschaftlichen Integration keine nennenswerte Rolle mehr. Herkunft kann sich im Laufe des Lebens verändern; sie ist nicht immer auf den ersten Blick sichtbar. Die daran anknüpfenden Diskriminierungsmechanismen sind vielschichtig und manchmal schwer zu bestimmen. Es ist deshalb notwendig, herkunftsbedingte gesellschaftliche Marginalisierung und Benachteiligung im pädagogischen Handeln im Blick zu haben und ihnen entgegenzuwirken und gleichzeitig aber immer das Individuum mit seinen Ressourcen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt unserer Pädagogik zu stellen.

Akzeptanz, Wertschätzung und Anerkennung unterschiedlicher Lebenswelten

Aufgrund der sehr ungleichen Verteilung von Chancen ist es wichtig, die unterschiedlichen Lebensbedingungen aller jungen Menschen zu thematisieren und sich für die gleichberechtigte Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen am sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Leben einzusetzen. Dabei geht es um die Akzeptanz, Wertschätzung und Anerkennung unterschiedlicher Lebenswelten und ein hohes Maß an gegenseitiger Verständigungsbereitschaft.

Ein friedliches Miteinander in einer pluralen Gesellschaft kann nur in der Akzeptanz gemeinsamer Grundwerte und daraus abgeleiteter Pflichten gelingen und wachsen. Diese rahmen die gesamte pädagogische Arbeit. Wir dulden keine Missachtung dieser gemeinsamen Grundwerte. Unsere pädagogische Arbeit eröffnet jungen Menschen Erlebnisräume für neue Begegnungen.
In unseren Einrichtungen erleben und erlernen sie den Wert einer vielfältigen und bunten Gesellschaft.