Verfolgt man die Medienberichterstattung der letzten Monate, drängt sich der Eindruck auf, dass Gewaltdelikte von Kindern und Jugendlichen exponentiell steigen. Zeit für ein klärendes Fachgespräch des KJR mit dem Fokus auf Ursachen und Prävention.
Fachkräfte aus KJR-Einrichtungen und -Fachstellen hatten zum Thema Jugendgewalt Interesse an einem umfänglicheren Fachgespräch mit fundiertem Input geäußert – mit belastbaren Zahlen, evidenten Hintergrundinformationen und Perspektiven für das pädagogische Handeln. Mehr als 60 Interessierte folgten der Einladung der drei Fachstellen für interkulturelle Arbeit, Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft mit Schwerpunkt junge Geflüchtete und Jungen*, junge Männer* und LGBTIQA+, um nicht nur das Phänomen Kinder- und Jugendgewalt zu beschreiben, sondern vielmehr Lösungsstrategien zu umreißen, was dagegen zu tun sei.
Zahlen – Daten – Fakten
„Ja, die Zahl von Gewalttaten, die durch Kinder und Jugendliche verübt werden, ist tatsächlich gestiegen. Die Täter*innen werden dabei jünger – das ist die eigentliche besorgniserregende Nachricht“, so Dr. Bettina Grüne von der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention beim Deutschen Jugendinstitut. Richtig sei aber auch, die öffentlich geführten Debatten zu versachlichen und einen Blick auf die Datenbasis zu werfen.
Zu dieser Versachlichung gehöre auch die Feststellung, dass Jugend und Gewalt schon immer verbunden seien; Gewalt wird damit als Episode bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben beschrieben. „Die gute Nachricht ist: Diese Gewalt hört auch irgendwann wieder auf – meist von allein“, so Grüne.
Bei näherer Betrachtung erweise sich Jugendgewalt meist als bagatellhaft, wird spontan und situativ verübt und findet oft im Kontext der Peer-Group statt. Lediglich fünf Prozent der verübten Gewalttaten werden von Mehrfachtäter*innen begangen. Gründe für gewalttätiges Verhalten sind vor allem eine angespannte sozio-ökonomische Situation, Probleme in Familie und Schule bzw. im Freundeskreis oder Kontakte zu Menschen, die selbst schon durch Gewalttaten auffällig geworden sind. Grüne: „Besonders problematisch finde ich es jedoch, dass diese Gewalttaten oft aus einem verzerrten Bild von Männlichkeit heraus begangen werden. Daran muss die Gesellschaft vor allem arbeiten!“
Bei den in Deutschland verübten Gewalttaten sind neun Prozent der Verdächtigen Kinder, Jugendliche und Heranwachsende. Rückblickend auf die letzten Jahre waren vor allem 2007 und 2008 mit sehr hohen Zahlen von Gewalttaten verbunden. Danach gingen diese Delinquenzzahlen zurück – seit 2022 ist erneut ein teilweise sprunghafter Anstieg der Fälle zu verzeichnen, der sich in den letzten Monaten jedoch etwas verlangsamt hat.
Hinterfragt man die Gründe für Zunahme von Gewalttaten seit 2022, ergeben sich mehrere Faktoren. So hätten ein verändertes Anzeigeverhalten, vermehrte Polizeikontrollen einerseits und angestiegene psychische Belastungen und das Fehlen eines Frühwarnsystems im Rahmen von Angeboten der Jugendarbeit/Jugendhilfe andererseits dazu geführt, dass diese Zahlen gestiegen seien. Hinzu kommen omnipräsente Krisensituationen, das Miterleben einer realen Kriegsgefahr oder allgemeine Zukunftsängste. Schließlich sei im Ergebnis zu beobachten, „dass es eine wachsende Zustimmung zu gewaltlegitimierenden Männlichkeitsbildern unter Kindern und Jugendlichen gibt – bei gleichzeitiger Reduzierung von Angeboten zur Gewaltprävention“, bestätigte Grüne.
Gewalt ernst nehmen – und nach Ursachen forschen
Dieser Einschätzung stimmte auch Andrea Beer zu. Die stellvertretende Sachgebietsleiterin im Bereich der Kriminalprävention der Polizei München befasst sich in ihrer Arbeit vor allem mit Präventionsangeboten im Bereich Kinder- und Jugendkriminalität. Sie berichtete, dass in München 2022 insgesamt 91.500 Delikte verzeichnet wurden – ein Anstieg von fünf Prozent im Vergleich zum Jahr davor. 2019 lag diese Zahl jedoch bei 97.600 Fällen. Sie erklärte, dass es in den letzten Monaten zu einer deutlichen Zunahme von Gewaltdelikten bei Kindern gekommen sei, die auch in ihrer Deliktintensität zugenommen hätten. Die Taten reichten von Körperverletzung und Raub bis hin zur Tötung.
In ihrer Arbeit setze die Polizei in der Landeshauptstadt deshalb vor allem auf Angebote zur Prävention, die Vernetzungsarbeit, vertrauensbildende Maßnahmen, Seminar- und Kursangebote und Maßnahmen zum Opferschutz umfassten. „Wir müssen uns jedoch auch vergegenwärtigen, dass Kriminalität in jeder Gesellschaft eigentlich normal ist. Das ist keine Entschuldigung für gewalttätiges Verhalten, setzt die Fälle aber in ein gesellschaftliches Normenverhältnis, das nicht von purem Alarmismus geprägt sein sollte“, so Beer.
Wie weiter?
Das Fachgespräch diente nicht nur der Beschreibung des Ist-Zustands, sondern lud mit einer Podiumsdiskussion, moderiert durch die Leiterin des Referats für Grundsatzfragen beim KJR, Anne Rathjens, mit Fachkräften aus verschiedenen Arbeitsfeldern zum Zusammentragen von Lösungen für den Abbau von gewalttätigem Verhalten ein.
Monika Strohmayer (AKIM) berichtete zunächst, dass die Messestadt Riem derzeit zu den Schwerpunkten in ihrer Arbeit zähle. Ihrem Eindruck nach hänge die Bedrohung durch gewalttätiges Verhalten auch vom subjektiven Empfinden ab.
Aus der praktischen Arbeit im Club Hasenbergl berichtete Leonardo Cocco, dass sich Gewalterfahrungen oft in Beleidigungen manifestierten. Gegenseitige Demütigungen unter Jugendlichen führten dann zum Bedürfnis, sich zu verteidigen, was in einigen Fällen schließlich zu Gewalt führen würde. Man habe deshalb einen „Runden Tisch nördliches Hasenbergl“ einberufen, der ein sichtbares und sicheres Netzwerk im Viertel widerspiegeln soll.
Verstörende Männlichkeitsbilder als Risikofaktoren für gewalttätiges Verhalten sah auch Andreas Schmiedel (Münchner Informationszentrum für Männer) als eine der Hauptursachen. Gewalt würde nicht aus sich heraus entstehen, sondern sei Ergebnis kollektiver Erfahrungen. Wenn man Gewalt als probates Mittel zur Konfliktlösung erlebt habe, müsse es in entsprechenden Angeboten darum gehen, die Täter*innen dazu zu bewegen, andere Lösungen als Gewalt zu suchen.
Dem stimmte auch Nina Diemer (Jugend im Fokus/Regsam) zu. In Interviews, die sie geführt hatte, gaben Kinder und Jugendlichen an, sich selbst schützen zu müssen, weil sie sich von realen Krisen, vermittelt durch mediale Berichterstattung, bedroht fühlen. Sie warb darum, erfolgreiche Angebote wie die Streitschlichtungsprogramme, die der Pandemie zum Opfer gefallen waren, wiederzubeleben. Bei alledem sei zu bedenken, dass es eine ganze Jugend-Kohorte gebe, die während Corona essentielle Dinge des sozialen Zusammenseins nicht genügend eingeübt und praktiziert habe.
Lasst es leuchten
Gefragt nach Forderungen an Politik und Gesellschaft formulierte u.a. Leonardo Cocco, dass insbesondere die Akteure der Jugendhilfe und der Bildung das derzeit vorherrschende Männlichkeitsbild dekonstruieren müssten. Es könne nicht sein, dass Haftstrafen und das Tragen von Waffen als cool unter Jugendlichen gelten. Gleichzeitig problematisierte er ein Racial Profiling, bei dem Jugendliche anlasslos kontrolliert würden – dabei seien vor allem Jugendliche betroffen, die scheinbar als migrantisch gelten. Dem widersprach jedoch Andrea Beer – die Polizei arbeite bei diesem Thema sehr sensibel.
Nina Diemer ergänzte, dass man offen und neugierig auf Jugendliche zugehen müsse, denn sie seien Expert*innen in eigener Sache. Sie benötigten nicht zuletzt unpädagogisierte Räume. Einen allgemeinen Alarmismus beim Thema Jugendgewalt lehnte sie wie alle anderen Podiumsteilnehmer*innen ab.
Kinder, Jugendliche und Heranwachsende müssen sich in der Stadt gesehen, willkommen und sicher fühlen. Das seien die wirksamsten Ansätze in der Bekämpfung von Gewalt. Mitunter genüge dazu schon, die Aufenthaltsqualität an den Gesellungsorten der Kinder und Jugendlichen zu erhöhen. „Eine ausreichende Beleuchtung könnte im Zweifel kurzfristig und wirksamer mehr erreichen als ein Strategieplan, der erst nach Jahren umgesetzt wird“, so das Credo der Teilnehmenden.
Marko Junghänel