Abschied nach drei Jahrzehnten für Jugendarbeit und Demokratie

Sylvia Holhut geht in den Ruhestand. Sie hat Jugendliche mit Holocaust-Überlebenden wie Max Mannheimer, Martin Löwenberg oder Ernst Grube zusammengebracht. Sie hat einem jungen Filmkollektiv geholfen, mit der Dokumentation „Kick it like Kurt“ die fast vergessene Geschichte des jüdischen FC-Bayern-Präsidenten Kurt Landauer wachzuhalten. Und wenn in München das „Demokratiemobil“, ein Feuerwehr-Oldtimer, aufkreuzt ein Feuerwehr-Oldtimer aufkreuzt mit Angeboten für die Menschen, über Politik und Demokratie zu reden, geht das auf ihre Arbeit zurück. Nun verabschiedet sich Sylvia Holhut in den Ruhestand.  
    ergänzender Audiobeitrag: Sylvia Holhut im Gespräch mit Frauke Gnadl und Ingrid Zorn
Beim KJR heuerte Holhut schon 1992 an, sie belebte die Jugendverbandsarbeit neu und gründete 2002 die Fachstelle Inklusion. Doch im Jahr 2006 begann der Abschnitt ihres Berufslebens, der bis heute prägend für sie sein sollte – und für München gleich mit.

Damals bekam sie den Auftrag, die Planungen zum künftigen NS-Dokumentationszentrum zu begleiten. Genauer gesagt, die Interessen junger Menschen dort einfließen zu lassen. „Das war nicht einfach, eine harte Zeit“, erinnert sie sich. „Bei den teilweise schwierigen Planungsphasen mit vielen Hindernissen und Diskussionen standen jugendliche Interessen und selbstbestimmte Bildungsideen nicht oben auf der Agenda“.
Als das NS-Dokumentationszentrum am 30. April 2015 feierlich eröffnet wurde, war die Erleichterung spürbar. Aber um die Ecke demonstrierten zeitgleich Neonazis gegen die Eröffnung, „mit gerichtlicher Erlaubnis!“, empört sich Holhut noch heute.
„Nur durch die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit können wir ein demokratisches und friedliches Heute schaffen“, davon ist die 63-Jährige überzeugt. „Wenn für Parteien wie die AfD die NS-Zeit ein `Vogelschiss in der Geschichte´ ist, sie aber jetzt im Stadtrat über eine angeblich misslungene Erinnerungsarbeit schwadroniert, dann stellen sich mir die Nackenhaare auf!“

Entsprechend engagiert hat sich Holhut stets für Demokratie und gegen Rechtsextremismus eingesetzt. Aus der Aufgabe, den Aufbau des NS-Dokuzentrums zu begleiten, erwuchs ein eigener Fachbereich im KJR: Die Fachstelle „Zeitgeschichtliche Projekte“, die seit 2014 „Demokratische Jugendbildung“ heißt.

„Wir wollen nicht Zielgruppe sein, sondern selber machen!“

Holhut hat diesen Bereich ab 2006 aufgebaut, geleitet und dabei viel von Jugendlichen gelernt. Etwa bei den großen Jugenddiskussionen 2008 und 2011 um das – damals noch künftige – NS-Dokuzentrum. Die zeigten zum einen, dass Jugendliche sehr wohl an Politik und Geschichte interessiert sind. Was heute niemand mehr ernsthaft bestreitet, nicht zuletzt seit „Fridays for Future“, war vor 15 Jahren keineswegs Konsens. Zum anderen, dass junge Menschen politische Bildung und Methodik selbst in die Hand nehmen wollen, Motto: „Auch für uns, aber vor allem mit uns und unseren Ideen!“ Von vielen Jugendlichen bekam Holhut zu hören: „Wir wollen nicht immer nur Zielgruppe sein, sondern selber machen!“

Ein Beispiel für dieses Interesse und auch die Begeisterung junger Menschen ist die Filmdoku „Kick it like Kurt“ über den jüdischen FC-Bayern-Präsidenten Kurt Landauer. „Das war ein grandioses, mutiges, junges Team“, erzählt sie. Die Jugendlichen hatten von Landauer erfahren, der auf Druck der Nazis 1933 als FC-Bayern-Präsident zurücktreten musste, später ins KZ Dachau kam und in die Schweiz fliehen konnte. Sie wollten seine Geschichte erzählen. „Sie sind über zwei Jahre drangeblieben“, erzählt Holhut begeistert, „auch ohne Hilfe des selbstzufriedenen Präsidiums des FC Bayern.“ Aus dem geplanten „kleinen Videofilm“ wurde eine einstündige Dokumentation, die 2011 DOK.Education des Dokumentarfilmfestivals in München eröffnete und später den „Münchner Bürgerpreis für Demokratie gegen Vergessen“ erhielt.

„Wenn Jugendliche sich mit Geschichte beschäftigen, dann wollen sie das mit ihren eigenen Ideen, mit ihren Themen und Fragen und gerne auch experimentieren“, sagt die Pädagogin. Ein solches Experiment ist Sommer.dok – die JugendGeschichtsWerkstatt, die erstmals im Sommer 2013 in ein kleines Zeltdorf auf den Königsplatz einlud. Seither zeigt Sommer.dok jedes Jahr, wie sehr sich die Beschäftigung mit der Geschichte von angestaubten Geschichtsstunden unterscheidet, wenn Jugendliche und junge Erwachsene das selbst gestalten.

Workshops, Rundgänge, Filme, Diskussionsrunden und Podien laden ein, sich mit Themen wie Spuren des Kolonialismus in München, Initiativen und Protest auf der Straße, politische Satire oder dem Gedenken an die Opfer des Attentats am OEZ zu befassen. Und immer bleibt viel Raum und Gelegenheit ins Gespräch zu kommen, sich kennenzulernen und sich auszutauschen: www.sommerdok.de. Das Jugendprojekt erhielt für seine attraktive, partizipative und qualifizierte Bildung 2018 den 1. Preis des Mosaik-Wettbewerbs der Städte München und Nürnberg. Auch so kann ein Lernort ausschauen.

Oder wie das feuerrote „Demokratiemobil“, das seit 2017 in München unterwegs ist. Der Feuerwehr-Oldtimer soll, so sagt es Holhut, „Brände löschen oder am besten verhindern, bevor sie entstehen.“ Also auf der Straße über Politik und Demokratie reden und Menschen zum Wählen motivieren. Mit einer Probe-Wahlkabine, mit Stimmungsbarometern, jeder Menge Infomaterial und kurzweiligen Mitmachangeboten. Natürlich parteineutral, aber entschieden positioniert für demokratische Werte und Menschenrechte. Seit 2017 konnten in 16 Münchner Stadtbezirken mehr als 8000 Menschen erreicht werden.

Die Fachstelle Demokratische Jugendbildung und ihre Leiterin Sylvia Holhut haben in den letzten 17 Jahren zahlreiche kleine und große Projekte angestoßen und realisiert, oft aber auch in Kooperationen mitgewirkt wie der großen Ausstellung „Endstation Vernichtung: Diensteifer und Pflichterfüllung bei der Reichsbahn in München 1933 – 1945“, die unter anderem an der Hackerbrücke gezeigt wurde. Oder die Veranstaltungsreihe „In München dahoam?“ zum Prozess gegen die rechtsterroristische Gruppe NSU. Oder Aufklärungskampagnen gegen Rechtsextremismus für Jung- und Erstwähler*innen, Beratung und Beteiligung an Ausstellungen wie „Pastinaken raus“ zu Rechtstendenzen in der Mitte der Gesellschaft, Studienfahrten zu Lern- und Gedenkorten oder Beiträge von Jugendlichen zum internationalen Kunstwettbewerb des NS-Dokumentationszentrums München.

Dies sind nur einzelne Schlaglichter der jahrelangen Arbeit für Demokratie. Einen immer noch guten Überblick gibt die 2017 erschienene Broschüre „10 Jahre Zeitgeschichtliche Projekte – Demokratische Jugendbildung“, die unter www.kjr-m.de/publikationen/10-jahre-zeitgeschichtliche-projekte abrufbar ist.

„Demokratie ist kein Dampfer, dessen Kapitän man sich anvertraut, sondern ein Boot, in dem wir alle mitrudern müssen!“

Besonders dankbar ist Holhut für die vielen Begegnungen mit Überlebenden des Nazi-Regimes, die sie im Laufe ihrer Arbeit im Kreisjugendring München-Stadt kennenlernen durfte. „Sie waren und sind mir persönlich nicht nur Ratgeber und Ratgeberinnen, Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter, sondern manchmal auch Freunde und Freundinnen geworden“, sagt sie. „Sie haben Herz und Verstand in Bewegung gebracht, sind mir Seismographen, die mich meine eigenen Überzeugungen und `Wahrheiten` immer wieder prüfen und überdenken lassen, fürsorglich und fordernd zugleich und weniger mahnend, sondern vor allem Mut machend. Ich bin für die Begegnungen sehr dankbar!“

Am 31. Januar verabschiedet sich Sylvia Holhut in den Ruhestand. Für junge Menschen und unsere Gesellschaft als Ganzes wünscht sie sich, wie es der Jurist Fritz Bauer doch „perfekt ausgedrückt“ hat: „Demokratie ist `kein Dampfer, dessen Kapitän man sich anvertraut, sondern ein Boot, in dem wir alle mitrudern müssen´. Wir dürfen nicht aufhören uns zu bewegen. Wir haben in unserer Demokratie eine sehr gute Grundlage. Sie ist nicht perfekt, aber es liegt an uns, sie zu gestalten und zu verbessern.“

Die Fachstelle Demokratische Jugendbildung wird die von Holhut begonnene Arbeit weiterführen und hat dafür in Laura Pulz eine engagierte neue Leiterin gefunden. Pulz kommt von der Gewerkschaft Verdi zum KJR und kennt diesen bereits aus ihrer ehrenamtlichen Arbeit, unter anderem aus ihrer Vorstandstätigkeit von 2010 bis 2014. Ihr Ziel ist es, „zusammen mit jungen Menschen aus der Vergangenheit zu lernen und für eine bessere Zukunft zu kämpfen“.

Laura Pulz