70 Jahre Biederstein – Vom Webstuhl zu Afrobeat

Das 70. Jubiläum feierte der Jugendtreff am Biederstein mit vielen Ehemaligen, ganz viel Jugendkultur – und einem unerwarteten Einstieg.

Kein Rap, keine Jugendsprache, keine Jugendlichen: Die Eröffnung ist überraschend. Auf der Bühne des Jugendtreffs stehen keine jungen Menschen, aus den Boxen klingen weder Rap noch K-Pop, sondern alte koreanische Lieder, gesungen von einem Chor asiatischer Damen: zumeist fortgeschrittenes Alter, traditionelle koreanische Gewänder. Doch betulich ist es keine Sekunde. Bald darf das Publikum mittels Karaoke-Monitor in ein Liebeslied einstimmen, wenig später zieht eine Polonaise aus Chorleiterin, Stadtrat Lars Mentrup, Patric Wolf vom örtlichen Bezirksausschuss, KJR-Vorsitzende Judith Greil und Leiterin Patricia Herzog durch den Garten.

Den koreanischen Frauenchor hat das Biederstein-Team bewusst zu Beginn der Feier zum 70. Jubiläum eingeladen. Waren früher die USA prägend in Sachen Musik, Mode und Lifestyle, „ist heute Südkorea für Jugendliche superspannend!“, erklärt Herzog. Das zeigt sich auch wenig später, als natürlich Jugendliche die Bühne übernehmen. Mit den „Asian Boyz“, „YXNow“ und „Partners in Crime“ tanzen gleich drei Gruppen zu K-Pop, koreanischer Popmusik. Bei Letzteren geht ein Kreischen durchs Publikum, warum erklärt Moderatorin Lisa: „‘Seven sense‘ gehört zum schwierigsten K-Pop-Tanz überhaupt! Jungs, ihr habt geslayed!“, ruft sie ins Mikro. Neben junger Musik und jungen Menschen ist damit auch die Jugendsprache auf der Bühne angekommen, das Jugendwort „slay“ bezeugt höchsten Respekt.

K-Pop ist seit bald 15 Jahren hier im Biederstein zu Hause, lange, bevor der „Gangnam Style“ es auch in unsere Charts schaffte. Vor gut zehn Jahren ging sogar eine Jugendfahrt nach Südkorea, zu den K-Pop-Idolen.

Zu Beginn ab 1953 war alles aus Übersee angesagt, von Rock’n’Roll über Jeans und Kaugummi. Heute ist das von den meisten kurz „Biederstein“ genannte Haus ein Hotspot von Graffiti, HipHop, Breakdance, Rap, Beatboxing, K-Pop und in letzter Zeit Afrobeat, „den auch Prince Charles bei seiner Krönung auf der Playlist hatte“, wie Herzog erwähnt.

„Biederstein ist ein super Treffpunkt“, sagt Moderatorin Lisa, „ich liebe euch, Leute, ihr seid super!“. Die „Leute“ hier kommen aus ganz München und darüber hinaus, „auch aus Sendling, Ismaning Unterschleißheim und – respect! – sogar aus Garching!“

Und das schon seit 70 Jahren. Zum Jubiläum gratuliert Stadtrat Lars Mentrup im Namen der Stadt und verrät, er habe vor Jahren, nach etwas zu viel Bier, „hier schon mal auf einer Couch übernachtet“. Er sagt „ein ganz großes Dankeschön an alle Jugendlichen, die das Biedersten mitgestalten“ und dankt besonders dem Team und seiner Leiterin Patricia Herzog, „die ich schon jahrelang, ach, jahrzehntelang kenne!“

Mit OwnSinn kommt jetzt Poetry auf die Bühne, danach rappt Samir auf Deutsch. Und das Duo ZiK & GG Soprano kombinieren Rap und Operngesang. Für diese lebendige Jugendkultur beglückwünscht KJR-Vorsitzende Judith Greil sowohl die Jugendlichen hier im Biederstein als auch das Team, das alles am Laufen hält – und das es auch während Corona geschafft hat, Jugendlichen und ihren Bedürfnissen ein Zuhause zu geben. Und ihnen auch öffentlich Raum und Gehör zu verschaffen, etwa auf dem Platz der Münchner Freiheit mit der traditionellen „School’s over Jam“ zum Schuljahresende oder dem „Day oft he Girl“ im Herbst.

Als „Geburtstagsgeschenk“ hat Greil einen Gutschein vom Musikhaus Hieber-Lindberg mitgebracht, mit dem das Tonstudio erweitert werden soll. Sie gratuliert aber nicht nur dem Biederstein zum siebzigsten, sondern auch einer Band zum sechzigsten Jubiläum: The Clouds haben sich 1963 hier gegründet und treten später im Saal auf.

Es wird langsam kühler im Garten, wo die Gäste an diesem zweiten Freitag im Mai seit bald zwei Stunden dem Bühnenprogramm folgen. Im Publikum sind ehemalige Besucherinnen und Besucher aus allen sieben Jahrzehnten, die wohl älteste ist Evi Nickel (geb. Waldschütz). Die heute 82-Jährige kam schon hierher, als noch die Amerikaner den Jugendtreff betrieben. Auch als 1953 der KJR übernahm und es inzwischen „Jugendheim am Biederstein“ hieß, sprachen sie und ihre Freundinnen immer vom „amerikanischen Club“, wo sie bei „Fräulein Putz“ anfangs noch Polka zu Johann Strauß tanzten oder am Webstuhl webten und wo sie 1954 eine „Ehren-Urkunde für hervorragende Leistung und gutes Benehmen“ bekam.

Auf der Bühne geht das Programm zu Ende, Leiterin Patricia Herzog entrollt ein Transparent mit einem Zitat von Albert Camus. Die Botschaft sei ihren Jugendlichen ein Anliegen, sie lautet: „Frieden ist die einzige Schlacht, die es wert ist, geführt zu werden.“ Nochmal großer Applaus.

Drinnen wird das Buffet eröffnet mit bayerischem und asiatischem Streetfood, darunter Kasspatzen und Bratnudeln mit Gemüse. Und im Saal stimmen The Clouds an Keyboard, Doppelhals-E-Gitarre und Bass die Klassiker von damals an – Nights in White Satin, Hotel California, diese Liga. Es ist auch die Musik der Damen vom koreanischen Frauenchor, etliche von ihnen und auch einige Jugendliche tanzen dazu.

Vielleicht werden sie sich in drei Jahrzehnten wiedersehen. Patricia Herzog jedenfalls hat „alle Jugendlichen von heute“ jetzt schon eingeladen „zum 100-jährigen Jubiläum in 30 Jahren“!

Gecko Wagner, Öffentlichkeitsarbeit, KJR